Was die Führungskraft vom Vorgesetzten unterscheidet

Du bist bereits Chef oder willst es bald werden? Egal wie gross dein Führungsrucksack ist, entscheidend ist die Qualität seines Inhalts. Kein Grund also, mit einer langen Liste an Führungspositionen zu prahlen oder dich aufgrund deiner «blank page» verunsichern zu lassen. Selbst gewisse Präsidenten, Konzern- und Armeechefs haben es nur bis zum Vorgesetzten geschafft – nicht aber bis zur Führungskraft. Warum? Weil nicht selten «Vitamin B», Beurteilungsfehler und günstige Augenblicke die Karriere bestimmen.


Von Marco S. Maffei

Eine Führungskraft vereint Führungstechnik, Lernen, Authentizität und  Wertschätzung.2 Im Vergleich dazu erfüllt ein Vorgesetzter maximal drei der vier Bedingungen.

1. Orientierung durch Führungstechnik

Die Führungstechnik umfasst alle Instrumente und Methoden, die jemand im Führungsalltag anwendet um zu führen. Sie bietet einen Orientierungsrahmen und beantwortet minimal folgende Fragen:

  • Was sind die Ziele? Führungskräfte setzen Ziele, zeigen auf, wohin die Reise führt, worauf die Energie zu fokussieren ist. Hiermit schaffen sie Klarheit über die gemeinsame Stossrichtung.
  • Welche Menschen braucht es, um diese Ziele zu erreichen?
    Wenn immer möglich, entscheiden Führungskräfte mit wem sie zusammenarbeiten, kooperieren und erfolgreich sein wollen. Hiermit legen sie den Grundstein zu den anvisierten Zielen.
  • Welche Hilfsmittel benötigen die Mitarbeitenden für die Zielerreichung?
    Führungskräfte setzen sich für optimale Arbeitsbedingungen ein, sei dies in Form von materiellen oder finanziellen Ressourcen. Hiermit erleichtern sie es ihren Unterstellten, die Ziele zu erreichen.
  • Wer macht was bis wann und in welcher Priorität? Führungskräfte definieren klare Verantwortlichkeiten, Aufgaben, Entscheidungsbefugnisse und Termine. Hiermit geben sie ihren Unterstellten die Möglichkeit, das Planbare zu planen, um so unnötige Stresssituationen, Redundanzen oder Leerläufe zu vermeiden.
  • Auf welchem Werte-Fundament basiert die Zusammenarbeit? Führungskräfte übernehmen die Verantwortung für die unternehmerische Wert-Schöpfung indem sie im Berufsalltag vorleben, was ihnen wertvoll ist, respektive was sie nicht dulden. Hiermit prägen sie die Unternehmenskultur, also die Art und Weise, wie sich die Mitarbeitenden verhalten.
  • Wie ist der Informationsfluss? Führungskräfte gestalten die Wertschöpfungs-Prozesse, von der Idee über die Produktion und Message bis hin zum Feedback. Hiermit beeinflussen sie die Interaktionen zwischen allen Anspruchsgruppen wie Mitarbeitenden, Kunden, Kapitalgebern, Mitbewerbern, Lieferanten, Staat, Öffentlichkeit und Medien.
  • Wie wird die Zielerreichung überprüft und sichergestellt? Führungskräfte lenken und steuern ihren Bereich zum Erfolg indem sie entscheiden. Hiermit übernehmen sie die Führungsverantwortung, sowohl für die Ziele, die sie setzen, als auch für den Kurs, den sie für die Zielerreichung wählen. Dies ist ein permanenter Lernprozess.

2. Anti-Fragilität durch Lernen

Je dynamischer das Umfeld ist, desto bedeutsamer wird das Lernen. Mit Lernen ist im unternehmerischen Kontext die Anpassung einer Organisation an die sich verändernde Umgebung gemeint. Lernen umfasst im Wesentlichen zwei Dimensionen:

  • Individuelles Lernen:
    Individuen machen Erfahrungen durch ihre Interaktionen mit Menschen und Maschinen. Sie lernen, sich zu orientieren und zu den Zielen zu navigieren. Je mehr Aufgaben oder Problemstellungen sie lösen, desto erfolgreicher sind sie, wobei sie nicht nur durch Erfolg, sondern auch durch Misserfolg lernen können. Die Hauptaufgabe einer Führungskraft besteht sonach darin, ihre Mitarbeitenden im selbstwirksamen Navigieren bestmöglich zu unterstützen.
  • Organisationales Lernen:
    Individuelles Lernen genügt indessen nicht. Erst wenn die Individuen ihre Erfahrungen untereinander austauschen und voneinander profitieren, um so auf Erfolgen aufzubauen und Misserfolge nicht zu wiederholen, erfüllt eine Organisation ihre Lernanforderungen. Entsprechend ist die Führungskraft also auch für den Aufbau, Betrieb und Unterhalt eines organisationalen Gedächtnisses mitverantwortlich.

Entscheidend ist die Geschwindigkeit der Anpassung: Je schneller, desto besser. Was nützt die perfekte Lehre, wenn sie zu spät gezogen wird? Deshalb ist es lebenswichtig, die Organisation systematisch von nicht (mehr) zielführenden Tätigkeiten zu entschlacken. Dies setzt neue Ressourcen frei, macht die Organisation fitter, leichter und beweglicher – drei zentrale Voraussetzungen für die Agilität und Innovationkraft einer Unternehmung. Insgesamt wirkt Lernen anti-fragil, sodass die Organisation auch bei negativen Einflüssen noch wächst. Ein passendes Beispiel sind die Flugschreiber – das «Gedächtnis» eines Flugzeugs. Dank ihnen profitiert die ganze Flugbranche: Das Fliegen wird sicherer, weil das Auswerten und Verbreiten der Daten es ermöglicht, aus Fehlern zu lernen – sofern die Daten den Tatsachen entsprechen.

3. Verlässlichkeit durch Authentizität

Sein statt Schein! Mit Authentizität ist Echtheit gemeint. Authentizität verschafft der Führung Zuverlässigkeit, denn sie zeichnet sich durch kongruentes Verhalten aus, d.h. wenn Wort und Tat – oder abstrakter: Verbales und Nonverbales – übereinstimmen. Wer authentisch ist, gibt sich vollständig zu erkennen. Das schafft Vertrauen und stärkt die Beziehungen im vorgegebenen Orientierungsrahmen. Die Herausforderung besteht dabei vielmehr im Verzichten als im Tun, was vor allem den vielen «Machern» unter den Vorgesetzten gar nicht so leicht fällt:

  • Keine Rollen spielen:
    Führungskräfte lehnen es ab, wie ein Schauspieler nach der Pfeife eines Regisseurs zu tanzen; sie übernehmen eine Funktion, bleiben dabei sich selbst und erfüllen ihre Aufgaben nach bestem Wissen und Gewissen.
  • Keine Masken tragen:
    Führungskräfte zeigen ihr Gesicht, wie es ist und wie es im Augenblick auf das eigene oder fremde Erleben reagiert. Sie ersparen es sich und ihren Mitmenschen, ihre wahre Mimik hinter einer Maske oder Schminke erstarren zu lassen. Führungskräfte entziehen sich auch nicht dem Blick oder der Kritik anderer; sie geben sich zu erkennen mit all ihren Stärken und Schwächen, stehen Red und Antwort, lassen ihre Taten für sich sprechen.
  • Nicht sagen, was man nicht meint:
    Führungskräfte nehmen Abstand von dem, was andere hören wollen; sie sprechen das aus, was für sie stimmig ist – und bürgen dafür.
  • Nicht glauben, was man nicht selbst sieht:
    Führungskräfte verzichten darauf, sich einem Dogma – Glaubenssatz, Lehre oder Meinung – zu unterwerfen. Sie lassen es offen und leben mit der Ungewissheit, etwas nicht zu wissen, bis sie es selber wahrnehmen und verstehen. Entsprechend reflektieren sie beispielsweise auch die vorgegebenen Unternehmensleitsätze kritisch und entscheiden, ob sie dahinter stehen.
  • Nicht vorgeben, was man nicht ist:
    Führungskräfte lassen davon ab, Gefühle oder Emotionen vorzutäuschen; in diesen Momenten halten sie die Leere und Stille beobachtend aus.
  • Nicht verleugnen, was man ist:
    Führungskräfte handeln nicht aus Vorsicht, Rücksicht oder Nachsicht anders, als es ihrem eigenen Wesen entspricht; sie lassen ihr Sein wirken. Dabei bleiben sie stets respektvoll.

4. Verbundenheit durch Wertschätzung

Im Kontext der Führung bedeutet Wertschätzung, ein echtes Interesse daran zu haben, alle Beteiligten und ihr Verhalten zu verstehen. Dies vitalisiert die Beziehungen. Zwei Dimensionen sind hierbei zu unterscheiden:

  • Generelle Würdigung:
    Führungskräfte respektieren die Einzigartigkeit und Andersartigkeit jedes Menschen, unabhängig von dessen Verhalten;
  • Individuelle Anerkennung:
    Führungskräfte zeigen sich erkenntlich für die konkret erbrachten Einzel- oder Teamleistungen, indem sie diese nachvollziehbar beurteilen, transparent bewerten und fair honorieren.

Im Berufsalltag äussert sich die Wertschätzung hauptsächlich anhand von Aufmerksamkeit und Feedback:

  • Gezielte Aufmerksamkeit:
    Führungskräfte richten ihre Energie auf das, was sie gerade tun. Dies beinhaltet genaues Hinsehen, Zuhören und Einfühlen. Ergo sind sie mit Leib und Seele anwesend und bestrebt, die wahren Ursachen und Zusammenhänge sowie Beiträge zur Problemlösung zu erkennen.
  • Faires, konstruktiv-kritisches Feedback:
    Führungskräfte lassen ihre Mitmenschen unmissverständlich wissen, was sie von ihrem Verhalten unter Berücksichtigung des Kontextes halten. Sie sprechen Stärken, Schwächen, Chancen und Gefahren direkt an, um Lösungen – nicht Schuldige – zu finden. Zudem fragen Führungskräfte präzise nach und integrieren andere Meinungen in ihre Entscheidungsgrundlagen. Damit reduzieren sie die Tendenz zu Falschinterpretationen und Fehlentscheiden. Zugleich nutzen sie so einen Grossteil des Potenzials an Wissen und Erfahrung, das sonst meist dezentral brach liegt.

Ohne Führungstechnik wird die Führung chaotisch, ohne Authentizität unberechenbar, ohne Wertschätzung verständnislos und ohne Lernen fragil. Folglich drosseln Vorgesetzte so die Performance-Motoren einer Unternehmung: Ein Wirkungsverlust von bis zu 40% ist keine Seltenheit, in extremen Misstrauenskulturen sogar bis zu 80%.3 Ein vertiefter Blick auf die vermeidbaren Kosten lohnt sich. Mehr dazu im Teil 2: Vertrauen durch Führungskräfte, Korruption durch Vorgesetzte.


  1. Vgl. Trilogie «Führungskraft»: 1. Teil: Was die Führungskraft vom Vorgesetzten unterscheidet; 2. Teil: Vertrauen durch Führungskräfte, Korruption durch Vorgesetzte; 3. Teil: Vom Vorgesetzten zur Führungskraft.
  2. Anm. d. V.: Diese Bedingungen sind alle gleich wichtig. Die Reihenfolge impliziert keine Priorisierung: Wie bei einem vier-rädrigen Fahrzeug sind alle vier Räder gleich wichtig, damit das Fahrzeug fahren kann.
  3. Vgl. Covey, S. M.R. (2008). The Speed of Trust: The One Thing That Changes Everything(S. 13-26). New York: FREE PRESS.