Lernen: Aufbau einer angstfreien Lernkultur

Lernen ist lebenswichtig und gezielt kultivierbar. Kultiviertes Lernen findet in einem angstfreien Klima statt. Der Weg dahin führt über drei Zwischenziele: Von einer wertvollen «Grundlage» (1) über vernetzende «Brücken» (2) zu einer entgiftenden und belebenden Lernkultur (3). So entsteht ein hoch wirksamer «Motor» des guten Lebens und gerechten Zusammenlebens in der Familie, Schule, Freizeit und im Beruf.

Lernen heisst Wissen, Weisheit, Fähigkeiten oder Fertigkeiten erwerben. Die Wirksamkeit von Lernen ist stark abhängig von der vorherrschenden Lernkultur. Im Folgenden liegt der Fokus auf hochwertigem Lernen. Im Vergleich zu minderwertigem, von aussen provoziertem Lernen durch Belohnung und Bestrafung besitzt hochwertiges Lernen drei Eigenschaften:

  • intrinsisch: hervorgerufen durch inneren Antrieb;
  • authentisch: entsprechend den tatsächlichen Stärken, Schwächen und Mängeln;
  • visionär: ausgerichtet auf kommende Entwicklungen, Chancen und Gefahren.

Die wichtigste Voraussetzung für diese Art von Lernen ist ein angstfreies Umfeld. Angst lässt sich hierbei umschreiben als eine intensive emotionale Anspannung, die stets dann aufkommt, wenn ein verdrängter Konflikt ins Bewusstsein zu geraten droht. Ein angstfreies Klima ist demnach:

  • sicher: von keiner Gefahr bedroht wie z.B. Mobbing, Versetzung oder Entlassung;
  • entspannt: frei von Faktoren, die das innere Gleichgewicht stören wie z.B. Zeitdruck oder jeglichen Erwartungshaltungen;
  • transformierend: aufkommende Konflikte in kreative Impulse umwandelnd wie z.B. neue Lösungsansätze dank Meinungsverschiedenheiten finden.

Schritt 1: «Grundlage» schaffen

Als erstes geht es darum, eine geeignete Grundlage zu schaffen. Dazu braucht es ein nachhaltiges Werte-Fundament. Als Quelle der zukünftigen Erträge sind der «Untergrund» sowie die Lernumgebung relevant.

1a) Werte-Fundament
Das Fundament ist nur so viel wert, wie der Stoff, aus dem es erschaffen ist. Es lohnt sich daher, qualitativ hochstehende «Grundstoffe» zu verwenden. Der wertvollste ist die Liebe – die Freiheit von Angst – ideal also für eine angstfreie Lernkultur. Unter anderem wachsen aus ihr Respekt, Vertrauen und Synergie-Effekte.

In diesem Kontext signalisiert Respekt das echte Interesse, die Mitmenschen und deren Verhalten verstehen zu wollen. Wem das nicht gelingt, sollte sich lieber im Umfeld von Maschinen – nicht von Menschen – bewegen. Echt ist ein Interesse dann, wenn es dem Herzen entspringt, d.h. wenn sich jemand mit «Herzblut» für etwas einsetzt.

Vertrauen steht hier vor allem für das Selbstvertrauen in die eigenen (Lern-)Fähigkeiten. Dies bedingt, die vorhandenen oder noch schlummernden Kernkompetenzen erstens zu erkennen und zweitens anzuerkennen. Dazu gehört auch, sich innerhalb seines gesamten Kompetenzkreises frei zu bewegen – aber nicht ausserhalb! Aus diesem Selbstvertrauen entwickelt sich:

  • Offenheit für bislang Unbewusstes, Unbekanntes oder Unvorhergesehenes;
  • Transparenz über eigene Gefühle, Gedanken, Erlebnisse, Situationen, Wünsche, Phantasien, Hinter- und Beweggründe;
  • Vorleben eigener Werte wie z.B. Offenheit und Transparenz.

Mit Synergie-Effekt ist der Mehrwert gemeint, der dank echter Zusammenarbeit entsteht. Dann ist das Ganze deutlich mehr als die Summe seiner Beiträge, Einzelleistungen oder -teile. Andernfalls handelt es sich um eine falsche Zusammenarbeit, die Kosten – aber keine Wert-Schöpfung – mit sich bringt. Anzustreben sind Beiträge, die sich ergänzen. Jene, die sich gegenseitig oder Dritte bekämpfen, sind aus Sicht der Synergie kontraproduktiv. Dies bedeutet jedoch nicht, dass destruktive Beiträge per se schlecht oder wertlos sind. Denn in gewissen Fällen ist es nötig, zuerst etwas aufzulösen und so Raum für Neues zu schaffen. Die raschesten und lautesten Beiträge sind selten die besten. Folglich ist es wichtig, dass auch leicht verzögerte und viel leisere in die Problemlösung einfliessen können.

1b) «Untergrund» und Lernumgebung
Eine grosse Bedeutung haben der «Untergrund» und die «Lernumgebung»: Beide beeinflussen die Lernkultur und deren Ergebnisse. Zum «Untergrund» gehört alles, was sich unter der Oberfläche befindet, auf der das Werte-Fundament errichtet werden soll. Die Umgebung umfasst die vier Umweltsphären Natur, Gesellschaft, Wirtschaft und Technologie samt deren Entwicklungstrends.

Entscheidend ist die Frage nach der Beschaffenheit des «Untergrunds» und der Lernumgebung – und wie sich diese auf das Werte-Fundament auswirken. Falls beispielsweise die wahre Absicht des Auftraggebers an einer angstfreien Lernkultur nicht klar, respektive das Vorhaben Mittel zu einem illegalen und illegitimen Zweck ist, handelt es sich um einen verschmutzten, kranken oder vergifteten «Untergrund». Oder wenn die nahe Umgebung durch störende Lärmquellen geprägt ist, kann dies ebenfalls negative Effekte auf die Lernkultur haben. Solche Bereiche sind gründlich zu prüfen und gegebenenfalls zu (be-)reinigen (siehe Schritt 3).

Schritt 2: «Brücken» bauen

Genaues Hinschauen lohnt sich also. Daher besteht der zweite Schritt darin, auf dem Werte-Fundament Brücken zu bauen. Jede Brücke besteht aus den beiden Elementen Reflexionskompetenz und Adaptionsfähigkeit. Diese Brücken helfen, Hindernisse zu überwinden und durch die neuen Verbindungen das Lernnetzwerk zu stärken.

2a) Reflexionskompetenz
Eine Reflexion ist in diesem Zusammenhang eine prüfende Betrachtung. Hierbei handelt es sich um die Fähigkeit, möglichst alles möglichst klar wahrzunehmen und zu verstehen. Die Reflexionskompetenz setzt sich demnach aus intuitiven und kognitiven Fähigkeiten zusammen:

  • Intuition: Wahrnehmen von Komplexität, d.h. das unmittelbare Erfassen des Wesens stark vernetzter und dynamischer Systeme (z.B. Mensch);
  • Kognition: Gesamtheit aller Prozesse, die mit Wahrnehmen und Verstehen zusammenhängen, d.h. das Gewinnen, Verarbeiten und Einordnen von Schlüssel-Informationen über das Wesen stark vernetzter und dynamischer Systeme (z.B. Mensch) in grösseren Zusammenhängen (z.B. Leben).

Zusammengefasst ermöglicht die Reflexionskompetenz, sich in ein System einzufühlen und das Wahrgenommene – auch das Unausgesprochene oder Emotionale – ruhig, klar und angemessen in Worte zu fassen. Die Reflexionskompetenz zeigt sonach auf, was wie zusammenhängt und sich entfalten kann.

2b) Adaptionsfähigkeit
Für das Entwickeln selbst ist allerdings nicht die Reflexionskompetenz, sondern die Adaptionsfähigkeit zuständig. Sie ist die Fähigkeit, ein System (z.B. Mensch, Organismus, Organ) an die jeweiligen Umweltbedingungen (z.B. natürliche, gesellschaftliche, wirtschaftliche, technologische Trends) anzupassen. Hierfür braucht es:

  • Vision als klares Bild, wie der angestrebte Endzustand aussehen soll, dies in Relation zu den tatsächlich vorhandenen Stärken, Schwächen und Mängeln sowie unter Berücksichtigung zukünftiger Entwicklungen, Chancen und Gefahren;
  • Volition als die Fähigkeit, Visionen zu verwirklichen. Dies bedeutet, in der Lage zu sein, Energien (z.B. «hearts and minds») auf das Wesentliche auszurichten, bis die Vision umgesetzt ist.

Freilich geht es hier nicht darum, klein beizugeben oder sich in eine Ecke drängen zu lassen. Ganz im Gegenteil. Die Adaptionsfähigkeit repräsentiert die vorzügliche Qualität von Wasser: Mit Kraft, Ausdauer, Beweglichkeit und Schnelligkeit alle Hindernisse zu überwinden und noch so herausfordernde Aufgaben zu meistern. Der entscheidende Erfolgsfaktor ist die Gelassenheit: fliessen zu lassen, wenn es fliesst, und stauen zu lassen, wenn es staut. Ab einem gewissen Grad an Gelassenheit tritt «emotionale Elastizität» ein. In diesem Zustand lässt ich ein Mensch emotional nicht mehr provozieren, ist dafür umso mehr im Stande, Emotionen beim Gegenüber zu wecken.

Schritt 3: Lernen kultivieren

Der dritte Schritt dient dazu, die ersten beiden zu pflegen. Die Aufgabe besteht hier also darin, die Grundlage (Wertefundament, «Untergrund», Umgebung) sowie die Brücken (Reflexionskompetenz, Adaptionsfähigkeit) in einen möglichst guten Zustand zu bringen und diese auch fit zu halten.

3a) Entgiften
Wer heute das Lernklima nicht von Schadstoffen befreit, vergiftet den Lernerfolg von morgen. Für eine Organisation wäre dies nicht nur kostspielig, sondern unter gewissen Umständen auch lebensbedrohlich. Beim Hauptverursacher handelt es sich um die Angst, die sich in ganz unterschiedlichen Facetten einschleicht. Ängste entstehen durch unreflektierte Emotionen oder falsches Denken. Hier ist es das Ziel, emotionale Knoten ein für alle Mal aufzulösen und Denkfehler konsequent zu berichtigen:

  • Emotionale Knoten entstehen, wenn Ängste (intensive emotionale Anspannungen) nicht entspannt, sondern verdrängt werden. Erkennbar sind sie beispielsweise an der «dicken Luft», die nach Übermut, Gier, Hass, Wut, Neid, Selbstsucht, Eifersucht, Rachsucht, Feigheit, Faulheit oder nach Trägheit des Herzens riecht. Emotionale Knoten sind ziemlich hartnäckig. Durch aufmerksames Hinsehen und Zuhören lassen sie sich aber relativ leicht wieder auflösen. Denn dann setzen sie die Energie frei, die sie in sich – in verdichteter, unterdrückter Form als Information – gespeichert haben. Ist die darin enthaltene Botschaft einmal entschlüsselt, steht sie für eine konstruktive Nutzung zur Verfügung. Die Luft ist wieder rein, die Vision von der Fata Morgana befreit.
  • Denkfehler entstehen, wenn emotionale Knoten die Hirnleistung drosseln. Dies verzerrt, limitiert oder verdeckt den Blick auf das Wesentliche. Die Folge ist eine falsche Vorstellung von der Wirklichkeit. Zu den gängigsten gehören der Induktionsfehler, der Umkehrschlussfehler und die Verwechslung von Kausalität mit Korrelation. Es gibt noch viele weitere. Diese aufzuzählen und zu erklären wäre jedoch intellektuelle Selbstbefriedigung. Denn die durch die emotionalen Knoten hervorgerufenen Denkfehler sind aus gedanklicher Sicht blinde Flecken. Im Vorhinein erkennt man sie deshalb nur bei anderen, bei sich selbst lediglich erst im Nachhinein, bei genügender Selbstreflexion. So macht es wenig Sinn, den Don Quijote zu spielen, der verbissen gegen die Windmühlen ankämpft. Viel wirkungsvoller sind wir, wenn wir die eigenen emotionalen Knoten lösen.

Doch Achtung! Systematisches Entgiften kann uns aus unserem intuitiven und kognitiven Halbschlaf rütteln. Deshalb ist Vor- und Nachsicht geboten, insbesondere im Umgang mit Menschen, die diesbezüglich noch in der Tiefschlaf-Phase stecken. Oft ist es ziemlich klug, ein neues Vorhaben ausgeschlafen anzugehen.

3b) Beleben
Die durch das Entgiften freigesetzte Energie steht sodann zur freien Verfügung. Beleben ist angesagt! Beleben stärkt die Fitness. Den grössten und nachhaltigsten Effekt erzielen wir, wenn wir an unseren Tugenden arbeiten. Sie stärken unseren Charakter, denn sie bestimmen, aus welchem Grund und zu welchem Zweck wir unsere Kräfte einsetzen. Dann lenkt uns nicht mehr der Zufall, die Gewohnheit oder der soziale Zwang, sondern die Freiheit. In Anlehnung an Platon sind vier Grundhaltungen von zentraler Bedeutung:

  • Besonnenheit: Gesundes Mass, sich die Freuden des Lebens zu erfüllen und sich dabei harmonisch ins Ganze einzuordnen sowie weder seine Triebe und Bedürfnisse zu unterdrücken noch sich von ihnen übersteuern zu lassen;
  • Gerechtigkeit: Haltung, die Würde aller Lebewesen zu achten und sich gegen Unrecht-Tun und Unrecht-Leiden zu wenden;
  • Courage: Mut, sich auch gegen mögliche Bedrohungen für das gute Leben, das gerechte Zusammenleben sowie für die Würde aller Lebewesen einzusetzen;
  • Klugheit: Fähigkeit, sich nicht täuschen zu lassen und kritisch, situationsgerecht sowie realitätsbezogen Wege zum guten Leben und gerechten Zusammenleben zu finden.

Im Endeffekt zählt nicht das Geld, sondern wie integer, d.h. wie besonnen, gerecht, couragiert und klug wir gelebt haben. Darin besteht das wahre Vermögen eines jeden Menschen – und entsprechend der ganzen Menschheit. Dieser Reichtum stellt den angestrebten Endzustand einer lebensbejahenden Gesellschaft dar, auf den alle politischen, wirtschaftlichen und technologischen Ziele ausgerichtet sein sollten.

Hochwertiges Lernen als «Motor» des Lebens
Der schrittweise Aufbau einer angstfreien Lernkultur ist lukrativ. Das geschaffene Werte-Fundament stärkt das Wir-Gefühl – eines der wirkungsvollsten Mittel gegen (Change-)Müdigkeit. Gelingt es zudem, die Synergie-Effekte geschickt für den Weiterausbau der Reflexionskompetenz und Adaptionsfähigkeit zu nutzen, lässt sich der nicht voraussehbare Anteil der Zukunft markant reduzieren. Restrisiken werden so geringer, Fehlentscheide unwahrscheinlicher. Indessen steht zusätzliche Energie zur Verfügung, um sich proaktiv und kontinuierlich um den Erfolg zu kümmern. Das Navigieren entlang der strategischen Positionierung wird einfacher und präziser. Beim richtigen Einsatz von Entgiften und Beleben gelingt letztlich auch die herausfordernde aber aussichtsreiche Gratwanderung zwischen Kontinuität und Wandel. Freude kommt auf: Hochwertiges Lernen vereint Philosophie mit dem praktischen Leben, in der Familie, Schule, Freizeit und im Beruf.